Also montiere ich mir hinten ein kleines 9er Ritzel
(kein Schreibfehler), vorne ein einzelnes 36er, dazu Starrgabel. Das sollte bei
70 km/h und 29er Laufradgröße bei berechneten 126 U/min noch drückbar sein,
ohne sich einen Knoten in die Beine zu leiern. Fürs Bergauffahren reicht das
große 44er Ritzel hinten allemal bei dem Straßenrennen auf Schotter. Und ´ne
Federgabel braucht man hier nicht. Gesagt, getan. Nebeneffekt: Das Bike wird
schön leicht.
Trotz untypischer Pünktlichkeit muss ich mein Kfz sehr
weit unten parken, so weit unten wie noch nie. Das deutet auf eine Vielzahl von
Heizern hin, die ich prompt alle am Start treffe. So auch meinen
Teamkollegen Sebastian „FK“ Stark, ihn sehe ich seit September 2015 das erste
Mal wieder. Er sieht genauso aus wie früher. Und fit ist er immer noch. Dann
geht’s auch schon los.
Am ersten Col zum Oberbecken befindet sich das Feld
noch im Warmfahrmodus. Oben angekommen, legt’s mich an einer Querfuge fast hin,
ich kann es gerade noch aussteuern und einen (Massen-)Sturz vermeiden. Jetzt
habe ich genügend Adrenalin im Blut, was mich veranlasst, mal fix nach vorne
zum Flaschenklau durchzufahren und mit ihm die Abfahrt zu genießen. Bret
Janschneider tut es mir gleich. Trotz Starrgabel rollt es bei mir gut und
kontrolliert hinab, und die Entscheidung, eine 4-zu-1-Übersetzung aufzulegen,
war keine schlechte. Unten ist Bret der Erste, der den Gegenanstieg in Angriff
nimmt, FK und ich paar Meter dahinter. FK macht jetzt allerdings ernst,
wechselt vom Regenerationsmodus in seine GA1-Ausdauer und drückt das Loch zu
Bret nicht nur zu, sondern koppelt ihn auch gleich ab. Für mich ist das schon beinahe
Anschlag, sodass ich mich bis zu Bret hinziehen lasse, dann aber an Brets
Hinterrad bleibe, um den Kreislauf nicht überzustrapazieren. Allerdings schafft
es ein Hüne, das entstandene Loch zu FK zuzudrücken: Rennradfahrer Robert
Walther. Beide setzen sich langsam ab; die Verfolgergruppe besteht aus zunächst
fünf offiziellen Drückern (Straßenfahrer Lars, Bret, Patte, Teamkamerad
Christian Schröder, Güldi) und einem inoffiziellen: Torsten „Mütze“ Mützlitz
fährt Regeneration vom gestrigen Marathon in Klatovy und hält uns bei Laune.
Mitte des Cols drückt Christian mächtig auf die Tube, dass nur die beiden alten
Herren (zusammen 85 Lenze) mehr oder weniger schmerzfrei dranbleiben können.
Und natürlich Mütze, der Regenerierer. Das flache Stück nutzen unsere
Ex-Kollegen zum Aufschließen, sodass wir nun sogar sieben Fahrer sind: „Roland“
Kunz und ein weiterer Rennradfahrer namens Alexander Loos auf seinem Crosser
haben sich dazu gesellt. Die Asphaltrampe drückt unser sehr starker Christian
wieder von vorne und entzerrt etwas das Gruppetto, auch Straßenfahrer Lars muss
kurz abkoppeln, nicht aus Altersgründen, sondern weil ihm die Kette vom Blatt
hüpft beim Runterschalten. Da lobe ich mir mein Single-Kettenblatt. Lars drückt
das Loch etwas später wieder zu. Im Flachstück gehen bei moderatem Tempo fast
alle durch die Führung, aber auch hier lupft an einer kurzen Rampe Christian
wieder am Gas. Keiner geht mit, weil keiner den Christian kennt. Noch nicht …
Ich gebe selbst kurz Zwischengas, und siehe da, alle geh’n se mit wie beim
Rattenfänger von Hameln. Also schnell Gas raus, um den Teamkollegen nicht
zuzufahren. Das übernehmen etwas später Bret und Patte.
Den Col de Fichtel
hinauf zündet beim Crosser der Turbo, wir holen ihn aber auf der Abfahrt bei
knapp 90 Sachen wieder ein. Straßenfahrer Lars macht dort die Pace und verpasst
etwas den Bremspunkt da unten. In unserem Alter lassen Sehstärke und das
räumliche Wahrnehmungsvermögen sukzessive nach. Er nutzt beim Einlenken in die
sich anschließende Schotter-Rechtskurve nicht nur die ganze Wegesbreite aus,
sondern auch die Flora und Fauna am linken Fahrbahnrand. Sprichwörtlich querfeldein. Da will ich ihm mal lieber nicht zu nahe kommen und überhole ihn.
Jetzt kommt die Stunde der 36/9er Übersetzung. Mit 60 bis 70 Stundenkilometern kann ich
kontrolliert die Kurbel drehen, während Patte und auch Christian nicht mehr
wirklich treten können. Dasselbe Spiel wiederholt sich die nächste Abfahrt zur
Brücke runter, wo uns der Crosser etwas entwischt, Patte das Loch wegen seiner zu
kleinen Übersetzung nicht zuleiern kann. Klemme ich mich halt vor Patte und
schließe die Lücke. Kann ja noch treten. Ätsch.
Der kurze Col nach der Brücke bringt dann eine
Vorentscheidung, als der greise Lars merklich die Pace erhöht. Nur Christian
und ich mit etwas Mühe und zwei Kilo zu viel auf den Hüften bleiben dran.
Christian geht auch noch vorbei am Drei-Meter-Mann. Langsamer wird’s dadurch
nicht. Auf einmal sind wir nur noch zu dritt. Unsere Dreisamkeit wird
allerdings unterbrochen durch ein Zischgeräusch an Christians Hinterrad.
Cheise. Plattfuß. Er hätte heute locker was gerissen, vor allem in seiner AK.
Aber mit seinen 16 Jahren sollte das hier noch nicht die letzte Chance gewesen
sein. Seine Vaterfiguren Lars und Güldi sind nun allein im Wald unterwegs. Ein
Ausruhen gibt’s nicht, denn wir wollen und müssen uns ja absetzen. Außerdem
erwartet man uns schon daheim im Pflegeheim bei Kartoffelbrei und
anschließendem Windelwechsel. Unter uns Vereinskollegen klappt auch die
Führungsarbeit bestens, was zur Folge hat, dass wir Robert Walther in
Sichtweite bekommen. FK hatte ihn zwischenzeitlich abgekoppelt, als er vom GA1-
in den GA2-Modus wechselte. Mit Robert Walther bin ich schon Ende der Neunziger
hier an gleicher Stelle um die Wette gefahren, und zwar mit einem 26er Barracuda
Comp mit einer Rock Shox Judy und brachialen 5 cm Federweg, einem 49 cm breiten
Lenker, Shimano-XT-V-Brakes, einer Dreifachkurbel von Race Face, einer
XT-Achtfachkassette und einer Übersetzung von 48/11, quasi im Schaufelraddampfermodus.
Mit einer Kurbelumdrehung kommst du da fast einen Kilometer weit. Da hat’s
knapp für mich gereicht. Damals war FK nur niedliche 11 Jährchen alt und
Grundschüler, Christian gab’s noch gar nicht, er war bestenfalls in Arbeit,
wohingegen der 3-m-Lars die Pubertät schon jahrelang hinter sich gelassen
hatte. Vermute ich zumindest. Wo ist die Zeit nur geblieben? Das zur Historie,
weiter im Text.
Der böse Lars versucht am vorletzten Anstieg erneut,
mich abzuschütteln. Das deute ich einfach mal so, da das Tempo schneller wird.
Zum Glück bleibe ich jetzt nach kurzem Turbolocheffekt dran und kann zusammen
mit ihm gen Ziel ballern. Lars gibt aber nicht auf und fährt den holprigen
„Downhill“ zum Unterbecken recht zügig hinab, um mir das Leben mit meiner
Starrgabel schwer zu machen. No way, ich bleibe auch hier dran, weil ich
Oberarmtraining mache. Nach kurzem Geplänkel mit Stehversuchen und einem tiefen
Schluck aus unseren Schnabeltassen gibt der Straßenfahrer gleich nach der
Steilkurve bergauf Richtung Zielanstieg Stoff. Okay, er kommt zehn Meter weg. Pech
gehabt, nicht mein Tag, sicher schleichender Plattfuß, Bremsscheibe schleift
bestimmt, Hungerdödel, schwerer Helm, Heuschnupfenanfall wegen des regen
Pollenflugverkehrs, Beinahesturz wegen der Kollision mit einem Marienkäfer,
verzögerte Reaktionsfähigkeit durch Synapsenblockade aufgrund des Elektrosmogs vom
Umspannwerk auf der rechten Straßenseite usw. Zu den zehn Metern gesellen sich am finalen
Plattenanstieg noch mal geschätzte fünf dazu. Okay, Pech gehabt, nicht mein Tag
… Irgendwann endet Lars‘ Vortrieb bzw. für Dativfetischisten „dem Lars sein
Vortrieb“. Sein Tempo bleibt konstant. Nun gut, vielleicht geht ja doch noch
was. Gang runterschalten, Schippe drauflegen, raus aus dem Sattel, Vollgas. Der
Arzt hat gesagt, ich darf das. Ich schraube mich tatsächlich an Lars heran –
und vorbei. Na hui, geiler Nachbrenner, ein Hoch auf die Jungbohnen bzw.
„nackschen Männeln“ im Salat meiner leiblichen Modder vom Vorabend. Der Straßenfahrer kann
nicht mehr kontern, und vorne rettet sich Robert Walther mit neun Sekunden und wenig Luft
im Hinterrad als Zweiter ins Ziel, wo ich erst mal Sterne sehe. Drei Sekunden nach mir
sieht der Lars dann die Sterne. Doch das alkoholfreie kühle Blonde verschafft
schnell Linderung und lässt uns – Christian, Lars und mich – zur Ausrollrunde
hoch und rund ums Oberbecken aufbrechen. Im endlich mal gemütlichen Tempo,
versteht sich.
Ergebnisse: hier.
Next race: Marienberg oder Most. Das most ich mir noch überlegen.
Lars vs. Güldi (c) by Robert Oehme |